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Die Post der Moderne (Juli): Weindorfleben

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Es ist August 2022 und in Europa wütet der Sommer.
Früher war Sommer mal schön. Als man noch unbeschwert im Gablenzer Bad Eiserne Kreuz-Tattoos zählen und sorglos auf dem Weindorf Statistiken über das Camp-David-Aufkommen erheben konnte. Als man noch täglich 5000 Kilogramm Rinderhüftsteak auf dem Webergrill oder – noch männlicher – über offenen Feuer wenden durfte, ohne dabei von permanenter Waldbrandgefahr belästigt zu werden. Heute ist Sommer vor allem eins: belastend. Schlimmer noch, der Sommer ist mittlerweile eine Art dystopischer Vorbote zur Klima-Hölle geworden, in deren Fegefeuer wir zukünftig alle schmoren werden wie einst unsere XXL-Bratwürste auf dem Grillrost. In der Sächsischen Schweiz, die ehrlich gesagt schon immer ein Vorhof zu Hölle war, lodern jetzt nicht nur die Fackeln der Nazis, sondern ganze Wälder, und auch bei Kretsche ist mal wieder der geballte Cringe entflammt. 

Der Sommer grassiert auch in Chemnitz, der Stadt, in der alle Trends fünf Jahre später ankommen, aber dem Klimawandel ist die Chemnitzer Trendresistenz egal. In der Chemnitzer City kann man sich zum Glück schon mal an das zukünftige Leben in der städtischen Sachsen-Steppe akklimatisieren, hier hat man sich bereits jetzt gut an die extremen Betonwüstenbedingungen angepasst: Baumlose Betonplätze laden dazu ein, auch bei großer Hitze im kühlen Häuserschatten zu verweilen, und wer beim Stadtbummel nicht in der prallen Sonne verglühen will, findet fast überall ein unschattiges Parkplätzchen, auf dem ein graues SUV-Lüftchen weht. Kein Wunder also, dass es viele junge Chemnitzer:innen aktuell wieder aufs Dorf zieht – also aufs Weindorf, wo man den Hitzschlag herrlich mit Grauburgunder runterspülen kann. Immerhin hat die Stadt im Frühjahr drei Trinkwasserbrunnen installiert, wobei man nie genau wissen kann, ob man es überhaupt noch dort hin schafft oder ob man vorher schon durstig auf dem heißen Pflaster des Chemnitzer Neumarktes verendet. Kurz: Selbst Death Valley ist ein lebensfreundlicherer Ort als die Chemnitzer Innenstadt. 

Doch unsere Stadtverwaltung hat mal wieder ein bisschen zu viel C gezogen und eine paradiesische Ruhe-Oase geschaffen, in der man sich in OB Svennis Schatten (Rathaus) erholen und entspannt dem modernen Yuccie-Lifestyle (Young Urban Chemnitzers) nachgehen, also Roster essen und sich aufregen kann. Fünf C-förmige Sessel, nicht mal in Lulatschfarben, eine Sitzinsel in den beeindruckend schönen Umrissen der Stadt und EINE traurige Pflanze sollen der Innenstadt jetzt Leben einimpfen. Das ist in etwa so, als würde man eine kleine Schüssel Wasser in die Wüste stellen, und hoffen, dass sich dort sofort Leben ansiedelt.
So geht er, der Chemnitzer Summer in the City: In den nicht mal ironisch hässlichen ILoveC-Badeschlappen zum C-Sessel schlürfen, ein CFC-Reservierungs-Handtuch drüber werfen, einen chilligen Hitzetag in der City verbringen, das vielfältige Culturprogramm von „Urban C“ genießen und anschließend auf dem Weindorf hitzetrunken zu Covermusik schunkeln. Die Stadt Chemnitz hat in Sachen Stadtmarketing mittlerweile ein Cringe-Level erreicht, das jegliche Satire eigentlich völlig überflüssig und uns im Grunde arbeitslos macht.
Die Stadt braucht dringend einen calten C-Entzug – seitdem ihr der Kulturhauptstadterfolg derart hart zu Kopf gestiegen ist, scheint sie völlig abhängig von dem Teufels-Ceug zu sein. Dabei gibt es auch andere tolle Buchstaben. E zum Beispiel, aber das kann man sich in Chemnitz nicht leisten. Deshalb fährt seit Juni auch „nur“ ein IC, ein langsamer Bummel-Intercity ohne Express, nach Berlin beziehungsweise Warnemünde, aber egal: Chemnitz kann jetzt Fernzug. Auch wenn Hater auf Twitter behaupten, dass der schicke neue IC nur eine weiß angemalte Regionalbahn sei. Dafür fährt er aber immerhin auch zwei mal am Tag ab Chemnitz Hauptbahnhof, für Chemnitzer Verhältnisse also richtig oft. Außerdem hat er WLan, richtiges Bahnpersonal, einen Kaffee- und einen Snack-Automaten und dazu eine Art Bordbistro-Simulation. Das einzige Problematische an diesem Zug ist eigentlich nur, dass er leider auch in Dresden hält. 

Stichwort Dresden: Während der einzig wahre rechtmäßige Sachsenkönig, Roland Kaiser, in Dresden alles abreißt, was keine Barockschnörkel hat, trumpft Chemnitz mit seiner ganz eigenen Kaiser Mania auf.  Wir meinen natürlich die Sven Schulze Sommertour. In deren Rahmen besucht OB Svenni wieder die sozialen Brennpunkte der Stadt, also das Weindorf und die Brauereimeile. Zwischendurch flext er noch lässig im CVAG-Baustellen-Fahrzeug und wenn dann doch noch nach Sozial aussehen soll (Schulze ist ein FDPler gefangen im Körper eines Sozialdemokraten, also wie Olaf Scholz), macht er noch ein paar rührige Fotos im Altersheim. Dieser Mann kennt seine Zielgruppe. Deshalb geht Svenni immer genau da hin, wo es nicht wehtut: Feuerwehr, Freibadpommesbude, FDP-Sommerempfang. Auch im größten Sommerloch bleibt er seiner weißen Wohlfühlwelt treu. An die Ränder der Chemnitzer Stadtgesellschaft traut er sich nicht, oder hat man ihn schon mal im Stadthallenpark Drogentütchen verstecken oder auf dem Sonnenberg Hakenkreuze tätowieren sehen? Hat er schon mal am Schlossteich mit Geflüchteten eingweggegrillt oder im AJZ die Küfa ausgegeben? Hat man ihn schon mal Tischkicker im Heckert-Jugendclub spielen oder bei der Obdachlosenhilfe gesehen? Besucht er auch andere dauerhaft Benachteiligte, wie z.B. den Klub Solitär und sonstige schwer marginalisierte Subkulturakteure? Steht das S in Svenni wirklich für Sozialdemokrat? Oder steht es für still, still, still, weil die Mitte schön weiter schlummern will. 

Um unseren CFC war es lange derart ruhig, dass die SuperIllu schon eine „Was macht eigentlich“-Homestory aus der Gellertstraße geplant hatte, doch jetzt meldet sich Chemnitz’ peinlichster Verein eindrucksvoll zurück, und zwar mit neuen Sponsoren: Der Energydrink 28Black prangt in der neuen Saison auf den prächtigen CFC-Spieler-Brüsten, der CFC kann sich also in Schwarze Dose Chemnitz umbenennen und das RB Leipzig Südwestsachsens werden. Auch in Sachen Fashion-Swag muss sich der CFC fortan nicht mehr hinter Spielern erstklassiger Vereine verstecken, denn unsere Himmelblauen dürfen jetzt offiziell Camp David tragen, den Stoff, aus dem Chemnitzer Textil-Träume sind. Damit ist der CFC jetzt nicht nur offiziell der neue Lieblingsclub von Dieter Bohlen, sondern auch der Aufsteiger der Chemnitzer Modeherzen und definitiv der Engelbert Strauß unter den Regionalliga-Vereinen. 

Chemnitz wird sich verändern, haben wir mal geschrieben, als die Stadt kometenhaft vom Weindorf zur Kulturhauptstadt aufstieg, und ja, Chemnitz hat sich verändert, aber ganz anders als wir dachten. Erst kamen die E-Roller, dann stiegen die Olivenpreise, dann zogen Menschen in die tanzende Siedlung, um vom benachbarten aaltra Silent Disco zu fordern. Jetzt fährt ein klimatisierter IC direkt nach Berlin, der New Yorker schreibt über die Chemnitzer Oper, und wenn das alles so weiter geht, wird irgendwann auch noch unsere gute alte MRB weggentrifiziert.  Seit neuesten hat Chemnitz auch einen eigenen Lurch, das Chemnitzion richteri, und ist damit endgültig in die erste Lurch-Liga der Großstädte aufgestiegen: In Leipzig gibt’s Lerche, in Chemnitz gibt’s Lurche. Und zwar nicht nur irgendwelche Lurche, die 291 Millionen Jahre alt und so langweilig versteinert wie die Marketingideen der Chemnitzer Stadtverwaltung sind, sondern kultige Kulturlurche, die „Marcel“ heißen und die Kulturhauptstadt als Lurch-Maskottchen noch mal auf ein ganz anderes Level bringen werden. In der Stadt ist man sich einig: Kulturlurch, das ist nicht etwa ein erfolgloser männlicher Kulturakteur, nein, das ist die Marketing-Zukunft der Stadt. Der Lurch soll mindestens Botschafter für 2025 werden, vielleicht wird der Kulturlurch aber auch Nachtbürgermeister oder Generallurch der Kunstsammlungen oder Makerlurch oder Lurch in Residence bei den nächsten Begehungen. Jedenfalls steht fest: Mit Kulturlurch Marcel hat schon wieder ein alter Mann das Sagen im Kuha-Game, in dieser Stadt wird sich so schnell wohl nichts mehr ändern. Schon jetzt werden deshalb eifrig Germens-Hemden entworfen und Maskottchen-Kostüme genäht – damit der endgültigen Infantilisierung der Chemnitzer Kulturhauptstadt auch nichts mehr im Wege steht. 


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